Gesehen. Noverre Gesellschaft, Junge Choreographen

Einmal im Jahr und schon seit 1961 präsentiert die Noverre-Gesellschaft in Stuttgart im Schauspielhaus den Ballettnachwuchs – nicht als Tänzer, sondern als Choreographen. Ein einzigartiger Talentschuppen, der zur Entdeckung von vielen großen und mittlerweile etablierten Choreographen-Namen geführt hat: Eric Gauthier, Christian Spuck oder Bridget Breiner, um nur einige zu nennen, haben beispielsweise bei den „Jungen Choreographen“ zum erstenmal auf sich aufmerksam gemacht, sie haben mittlerweile eigene Compagnien oder leiten eigene Häuser. Die beiden Abende sind deshalb so etwas wie die Ballett-Version des „European Song Contest“, bloß ohne Abstimmung. Die Spannung vor, auf und hinter der Bühne ist gewaltig: Die Choreographen wissen, was für sie auf dem Spiel steht, wenn Ballettkritiker, Intendant Reid Anderson und Ballett-Stars wie Alicia Amatriain mit kritischem Blick im Publikum sitzen. Für das „normale“ Publikum dagegen ist der Abend eine grandiose Show, ein faszinierender Einblick in die Bandbreite des modernen Tanzes, denn die jungen Choreographen machen vor nichts halt, sie bedienen sich frei beim klassischen Ballett, Hip-Hop, Modern Dance oder Standardtanz, bei Pantomime, Theater und Oper. Sie lassen ihre Tänzer strampeln und sich herumwälzen, sich miteinander prügeln und Fitnessübungen ausführen, lachen und wehklagen, sie arbeiten mit raffiniertem Licht, halb heruntergelassenem Vorhang und fantasievollen Kostümen. 13 kurze Choreographien an einem Abend, das ist sportlich und eine echte Herausforderung auch für das Publikum. Besonders sinnlich gerät dabei der Pas de Deux von Aurora de Mori mit dem Titel „Klimt’s persuasion.“ Im Hintergrund hängt eine riesige Leinwand mit Gustav Klimts „Der Kuss.“ Kleine Details auf den Kostümen des Tänzerpaars wiederholen Motive aus dem Gemälde, und zum Schluss, wie könnte es anders sein, versinken die beiden in einem Kuss, der das Bild imitiert. Großer Gewinner des Abends, zumindest, wenn es nach dem Applausometer geht, ist das Stück „Cello contra bass“ des Stuttgarter Tänzers Roman Novitzky. Drei Männer und eine Frau spielen ein imaginäres Streichkonzert, so überzeugend, dass man glaubt, die Instrumente zu sehen, temporeich, witzig und genial. Nicht zuletzt sind die Noverre-Abende auch eine Talent-Show für den Ballettnachwuchs. Kein einziger großer Name auf der Bühne, stattdessen die einzigartige Chance für junge Tänzerinnen und Tänzer, sich zu erproben und ihr tänzerisches Können unter Beweis zu stellen. So will es Reid Anderson, dessen Credo es ist, das Cranko-Erbe zu bewahren und gleichzeitig den Nachwuchs zu fördern. Freuen kann man sich jetzt schon auf seine große Abschiedswoche im Juli. Der Vorverkauf hat heute begonnen – wer noch Karten will, sollte sich sputen.

P.S.:
Freizeittipp: Am Sonntag, 12. Juni, 19.30 Uhr ist Fußball-EM, und da spielt Deutschland. Natürlich will ich nicht darauf hinweisen, sondern auf das allerbeste Alternativprogramm, im Theaterhaus spielt Honey Pie „Bye Bye Honey Pie!“ Karten gibt es beim Theaterhaus unter 0711-4020720 und mehr Infos unter http://www.honey-pie.de.

P.P.S.:
Gastrotipp: Es lebe die Provinz! Wer die gesalzenen Stuttgarter Gastronomie-Preise satt hat, die auch vor Italienern nicht halt machen, dem sei die Osteria in Herrenberg am Marktplatz empfohlen. Für 7,30 Euro gibt es dort beispielsweise eine köstliche Pizza mit Spinat und Gorgonzola in Wagenradgröße, und die Gemüse-Antipasti kann man gar nicht alleine schaffen. Vorher noch ein Gang durch das hübsche Herrenberg mit seinen wunderschön hergerichteten Fachwerkhäusern oder ein Spaziergang durch den Schönbuch, schon ist der Sonntagsausflug perfekt, natürlich mit der S-Bahn, der Bahnhof liegt ganz zentral.

Hinterlasse einen Kommentar