Großbritannien unter Schock: Boris Johnson will Parlament mundtot machen

Boris Johnson will einen harten Brexit. Und dazu ist ihm jedes Mittel recht. Die Briten reagieren darauf so emotional, wie man sie selten erlebt hat.

Normalerweise behalten Briten ihre Gefühle für sich. Und ihre Meinung zur Politik sowieso. Doch gestern Abend war alles ganz anders. Nachdem Boris Johnson das Parlament im September/Oktober für mehrere Wochen suspendieren will, gingen Tausende auf die Straße. Bei einer Demonstration in Chester machten die Demonstranten ihren Gefühlen Luft.

Nein, Boris Johnson verhält sich nicht gegen das Gesetz. Es ist normal, dass ein neuer Premierminister die traditionelle Parlamentspause, die die Parteien in der Regel für ihre Parteikonferenzen nutzen, verlängert. Doch dass diese prorogation ausgerechnet jetzt passiert, da nur noch wenige Wochen bleiben, um den Brexit im Parlament zu diskutieren, und so ungewöhnlich lange dauern soll, ist ein nie dagewesener Versuch, die Demokratie auszuhebeln. Und dabei ist Boris Johnson nicht einmal vom Volk legitimiert! Boris Johnson behauptet, das habe mit dem Brexit nichts zu tun. Er brauche die Zeit, um sein Regierungsprogramm und neue Gesetze vorzubereiten. Aber alle wissen, dass er lügt, denn er will den Brexit zum 31. Oktober durchpeitschen, egal wie. Das Chaos, in das er sein Land damit stürzen will, interessiert ihn nicht. Und es ist kein Zufall, dass er dies gestern veranlasst hat, einen Tag, nachdem sich die oppositionellen Kräfte getroffen haben, um ein Bündnis gegen Boris Johnson und den ungeregelten Brexit zu bilden. Boris Johnson weiß, je weniger Zeit bleibt, desto größer sind seine Chancen, Allianzen gegen ihn zu verhindern. Wenn es nach ihm geht, dann versammelt sich das Parlament nach der Sommerpause am 3. September, um die Woche darauf bereits wieder in die Zwangspause geschickt zu werden. Diese würde bis 14. Oktober andauern. Dann würde die Queen (die einem beinahe leid tun kann) sein Regierungsprogramm in einer „Queen’s Speech“ darlegen. Danach blieben zwei Wochen bis zum Austrittsdatum am 31. Oktober.

Der Aufschrei ist groß, und es bleibt zu hoffen, dass der Schuss nach hinten losgeht. Ruth Davidson, die allgemein hochgeschätzte Chefin der Torys in Schottland, ist heute zurückgetreten. Seit gestern haben 1,3 Millionen Menschen eine Online-Petition gegen die prorogation unterzeichnet. In vielen Städten wurde und wird demonstriert.

Etwa 300 Menschen haben sich gestern Abend kurzfristig in Chester zu einer Demo versammelt. Zu dieser Demo hatte die Gruppe Chester for Europe aufgerufen. 300 Menschen, das mag wenig erscheinen. Aber ich habe noch nie so eine Demo in Großbritannien erlebt. Die sonst so zurückhaltenden Briten, die ihre Gefühle normalerweise für sich behalten oder mit Ironie überspielen, sie waren wütend, fassungslos und traurig. Über eine Stunde gaben die Demonstranten Statements ab. Es waren an die dreißig, vierzig Menschen, die das Mikrofon in die Hand nahmen, um öffentlich zu machen, was sie bewegt. Und eines war klar: Hier geht es nicht mehr nur um den Brexit. Hier geht es darum, dass Boris Johnson sich wie ein Diktator aufführt, der die britische Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert. „Tonight is not about Europe. Tonight is about democracy!“, ruft einer der Redner. Es fallen Worte wie Coup, Faschismus, Hitler. Die Sorge der Demonstranten um ihr Land, ihre Werte und ihre Zukunft ist unendlich groß. Und sie ist berechtigt.

Und da ist auch Angst. Angst vor rechter Hetze, Angst vor Gewalt. Eine Frau mit polnischen Wurzeln sagt, sie will nicht im Café flüstern müssen, weil sie polnisch spricht. Eine andere Frau sagt, sie kommt aus Nordirland, und sie bricht in Tränen aus, als sie sagt, dass sie nicht glauben kann, dass die Regierung den Frieden in Nordirland aufs Spiel setzt. Immer mehr Leute fassen sich ein Herz und sprechen. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte. Da ist die Schwedin, die seit 45 Jahren in Großbritannien lebt und sich nicht mehr daheim fühlt, die Niederländerin, die nicht weiß, ob sie bleiben darf, und der alle spontan zurufen, „We love you!“

Viele fangen bei ihren Statements an zu weinen. Einige rufen zum zivilen Ungehorsam auf. Eine Frau sagt, sie hat sich im Supermarkt schon stapelweise Zeitungen der Lügenpresse unter den Arm geklemmt und diskret entsorgt. Ein 15jähriger Junge sagt, er kann nicht glauben, dass sein Land von lauter Idioten regiert wird.

Ja, es ist ein Abend der kollektiven Wut, der Tränen, des Lachens und gemeinsamen Singens. „We’re not going to Brexit!“ Am Rande der Demo kommt es zu einem Tumult. Ein paar junge Männer beginnen eine Auseinandersetzung. „Let’s get Brexit!“, brüllen sie. „Yes, we are leaving!“, schreien andere aus vorbeifahrenden Autos heraus. Für sie ist Boris der starke Mann, der endlich den Brexit durchzieht. Es ist doch lange genug geredet worden, finden sie. Doch dass mit einem ungeregelten Brexit die Probleme erst anfangen, kapieren sie nicht.

Keiner weiß, wie das mit dem Brexit enden wird. Aber eines ist sicher. Dieses Land ist in seinen Grundfesten erschüttert worden und tief gespalten. Und es ist gut möglich, dass es am Ende zerbricht. Die schottische Unabhängigkeit ist näher gerückt, und das Thema Irland ist längst nicht geklärt.


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